“Übergestern”. Kinder, die dieses Zeitkonzept kommunizieren, sind schon ziemlich erfahren darin, Abläufe und Erlebnisse zeitlich einzuordnen. Eine Stufe davor ist das Wort gestern, mit dem alles beschrieben wird, was vor heute passiert ist. Mit morgen wird alles benannt, was nach heute passieren wird. Eine wesentliche Fähigkeit, die dafür notwendig ist, ist das Zählen, erklärt uns die Leiterin des IchDuWir Montessori Kinderhauses, Christa Bleiweis, am Elternabend.
Stellt euch einmal eure Kinder vor. Was die alles zählen: Treppenstufen, Baba-Bussis, aus scheinbarem Chaos suchen sie sich Sachen zusammen und zählen diese… Warum? Indem sie Muster entdecken, schaffen sie Ordnung.
Thema des Elternabends: der mathematische Geist
Maria Montessori nannte dies den mathematischen Geist, der sich durch Genauigkeit, Ordnung und Vergleich auszeichnet. Der mathematische Geist wird im Kinderhaus von Beginn an geschult. Eine besondere Rolle spielen dabei die Sinnesmaterialien, denn laut Maria Montessori sind die Sinne “der Schlüssel zur Welt”. Sinnesmaterialien, mit denen der mathematische Geist gefördert wird, sind zum Beispiel der rosa Turm, die braune Treppe oder die roten Stangen.
Elternabende im IchDuWir Montessori Kinderhaus sind ganz besonders. weil uns die Pädagoginnen selbst erleben lassen, was unsere Kleinen den ganzen Tag so treiben. An diesem Elternabend lassen sie uns eben einige Sinnesmaterialien ausprobieren, die den mathematischen Geist schulen.
Teil 1: Wir Eltern erforschen das Sinnesmaterial



In mehreren Gruppen versuchen wir uns am rosa Turm, an der braunen Treppe und den roten Stangen. Die Pädagoginnen unterstützen uns, wenn wir nicht mehr weiter wissen, lassen uns aber ansonsten – eben ganz im Sinne Maria Montessoris – selbstständig das Material entdecken.
“Das war eine große Arbeit, eine schwere Arbeit”, meint Suni, eine Pädagogin der Kleinkindgruppe, als wir wieder alle beisammen sitzen und von unseren Erfahrungen erzählen. Und dann erfahren wir auch noch vieles über das Material, das uns beim ersten Entdecken gar nicht so bewusst gewesen ist.
Nehmen wir als konkretes Beispiel den Rosa Turm. Der Rosa Turm…
- ist aus massivem Holz gefertigt. Die Kinder nehmen die Größe und Gewicht der einzelnen Kuben wahr;
- fördert die Entwicklung der Grob- und Feinmotorik. Die Kinder tragen jeden einzelnen Kubus aus dem Regal zum Arbeitsteppich, setzen die Kuben aufeinander und räumen die Arbeit auch wieder ins Regal zurück;
- schult das Verständnis für 3 Dimensionen: Höhe, Breite und Länge.
- dient älteren Kindern dazu, erste Volumenberechnungen zu machen.
- fördert die sprachliche Entwicklung. Kinder lernen die Bedeutung von und den Umgang mit Begriffen wie “groß” und “klein” und später auch von Beziehungen (“größer”, “kleiner”);
- u.v.m.
Teil 2: Theorie – was macht das Montessori Material so besonders?
Montessori Material hebt sich von herkömmlichem Lern- und Spielmaterial durch zwei Merkmale ab:
1. Isolierung der Eigenschaften
Wenn Kinder (und nebenbei bemerkt auch Erwachsene) mit zu vielen Dingen gleichzeitig konfrontiert sind, haben sie Schwierigkeiten, sich auf das Wesentliche zu konzentrieren. Ein spezifisches Merkmal des Montessori Materials ist daher die Isolierung der Eigenschaften. Bei der Arbeit mit dem Rosa Turm geht es nun konkret darum, Veränderungen der Dimensionen zu begreifen. Daher sind zum Beispiel keine Bilder am Turm.
2. Fehlerkontrolle
Im IchDuWir Kinderhaus lernen die Kleinen, selbständig zu überprüfen, ob sie eine Arbeit richtig gemacht haben. Das Montessori Material ist so gestaltet, dass eine automatische Fehlerkontrolle möglich ist. Nehmen wir wieder den Rosa Turm als Beispiel:
- Wenn die Kinder den Turm bauen und er fällt um, merken sie das selbst und fangen noch einmal von vorne an;
- der kleinste Kubus dient zur Überprüfung, ob man die Würfel in der richtigen Reihenfolge aufeinander gesetzt oder nebeneinander gelegt hat;
- durch Ertasten (auch blind) mit den Händen merkt man, ob die Kuben Kante auf Kante gesetzt sind;
- etc.
“Warum ist die Möglichkeit zur selbstständigen Fehlerkontrolle so wichtig?” fragt ein Vater. Christa zitiert Maria Montessori:
Dem Kind muss geholfen werden, selbst zu handeln und sich selbst auszudrücken […] Jedes Mal, wenn der Erwachsene ihm hilft, ohne dass eine Notwendigkeit besteht, behindert er dessen Entfaltung und – als schwere Folge eines scheinbar so kleinen und unbedeutsamen Behandlungsfehlers – hält er die Entwicklung des Kindes auf oder bringt sie in irgendeiner Hinsicht vom richtigen Weg ab.
Maria Montessori
Teil 3: Übungen mit dem Rosa Turm
Sabine, Pädagogin der 3-6jährigen, fragt nun eine Mutter: “Hilfst du mir, den Turm zu bauen?” Und sie gestaltet die Darbietung so, als ob sie mit einem unserer Kinder arbeiten würde. Sie korrigiert auch nicht, als die Mutter etwas “falsch” macht, denn laut Sabine würde dies das Kind bremsen.
An alle, die jetzt vielleicht etwas skeptisch werden und meinen, dass man doch korrigieren muss, wenn etwas falsch gemacht wird… Nur ein paar Augenblicke später merkt die Mutter anhand der Fehlerkontrolle, dass da etwas nicht ganz stimmen kann…




… und die Mutter korrigiert nun die Arbeit ganz alleine und ohne Hilfe. Könnt ihr das stolze Lächeln sehen?
Wenn die Kinder mit dem Material bereits erfahren sind, stellen sie sich auch gerne gegenseitig Aufgaben und Rätsel. Und dann folgt Schritt für Schritt der Transfer in die Wirklichkeit: Haben die Kinder die Begriffe “groß” und “klein”, “größer” und “kleiner” und “am größten” und “am kleinsten”, gelernt, lädt die Pädagogin sie nun zu neuen Abenteuern ein:

“Nimm bitte den Würfel, der klein ist, und leg ihn unter den blauen Teppich.” Und die Kinder laufen und holen und bringen die Würfel mit einer Freude und Ausdauer, die man sich gar nicht vorstellen kann.
Teil 4: Eine kleine Geschichte
Zum Abschluss zeigen uns die Pädagoginnen Steffi und Corinna noch, dass man mit dem rosa Turm vortrefflich Geschichten über Relationen und Veränderung erzählen kann. Als Inspiration dafür dient eine Szene aus Astrid Lindgrens “Die Kinder aus Bullerbü”.
Ich heiße Lisa. Ich bin ein Mädchen. Das hört man übrigens auch am Namen. Ich bin sieben Jahre alt und werde bald acht. Manchmal sagt Mama: “Du bist ja mein großes Mädchen, du kannst mir also heute beim Abwaschen helfen. Und manchmal sagen Lasse und Bosse: “Kleine Mädchen dürfen nicht mit uns Indianer spielen. Du bist zu klein.” Daher weiß ich nicht, ob ich eigentlich groß oder klein bin. Wenn die einen finden, dass man groß ist und andere, dass man klein ist, so ist man vielleicht gerade richtig.
Astrid Lindgren, Die Kinder aus Bullerbü

Christa zeigt nun noch eine Auswahl an Fotos, auf denen unsere Kinder mit dem Sinnesmaterial arbeiten. Danach bleiben wir alle wie immer noch einige Stunden zusammen, plaudern und plündern unser selbst mitgebrachtes Buffet.
Liebe Pädagoginnen, danke für diesen tollen Einblick in das Kinderhaus-Leben unserer Kleinen. Wir freuen uns schon aufs nächste Mal!